Wenn man von völlig fremden Menschen eine Kürbissuppe mit winzigen Garnelen serviert bekommt, weiß man zwei Dinge: Erstens, dass man in Meernähe ist. Das erkennt man am Geschmack der Garnelen, von denen ich eine sehr große Bewunderin bin und deren Herkunft ich dementsprechend genau unterscheiden kann. Und zweitens, dass die Menschen, mit denen man soeben in Kontakt getreten ist, sehr nett sein müssen. Ich, als Verfechterin von Kontaktverweigerung, bin in diesen Tagen in Mecklenburg-Vorpommern zur Königin geworden. Meine Geschichte lautet folgendermaßen:
Wir sind in den Zug gestiegen, ich habe sämtliche Reden von Cicero übersetzt und dem Personal bei der Fahrkartenkontrolle vorgetragen, plötzlich waren wir in Mecklenburg-Vorpommern. Was wollt ihr, ihr Ganoven, habe ich gesagt, als uns die mit dem pinken Hut zur Begrüßung eine soeben gezupfte, winzige Blume hingehalten hat. Herzlich Willkommen, sagt sie. Mir fährt ein eiskalter Schauer über den Rücken: Die Würfel sind gefallen. So, meine Freunde, habe ich gesagt und zum Gruß die Hand erhoben, wir sind hier also alle zusammengekommen, um den Leib Mecklenburg-Vorpommerns zu kosten! Mir schlottern die Knie bei diesem Satz. Eine Dänin, eine Italienerin, ein Spanier, eine Österreicherin und mein Reisekumpan Andreas starren mich an, als hätte ich ihnen einen gewaltigen Bären aufgebunden. Doch ohne Wahl sind wir losgezogen, rein in die wilde Natur, immer der Nase nach, wie mein Großvater schon sagte, durch das Filmbüro in Wismar, durch Paetrick Schmidts Galerie und schließlich auf den Marktplatz von Wismar. Ich hänge mich bei meinem Reisekumpan Andreas ein, um besser flanieren zu können, nehme eine tiefe Prise der Stadtluft, bis wir einen Mann entdecken, der einen Laib Käse an einen anderen Ort trägt. Sobald er uns gesehen hat, schreit er uns entgegen: Lecker, lecker!, laut und mit besonderer Betonung auf dem E. Ein Schreck fährt uns in die Glieder: Los!, wir fliehen nach Neubukow.
Der Bürgermeister von Neubukow begrüßt mich mit einem Blumenstrauß. Oh, sage ich verwundert, Sie haben schon gehört, dass ich zugegen bin? Natürlich, meine Teuerste!, antwortet er, wir flanieren durch sein kleines Örtchen, es ist warm, oft tropfen Schweißperlen von seiner Stirn auf das Hemd. Mein Guter, sage ich und beiße in mein Kassler, das mir soeben eine fröhlich anmutende Kellnerin auf die Sonnenterrasse serviert, ich sehe, Sie haben sich hier gut eingelebt. Draußen, vor dem Restaurant, sitzt einer seit zehn Jahren und hält die Deutschlandflagge in den Wind. Jeden Tag, sagt der Bürgermeister, kommt er her und wird wütend, wenn man ihn nicht grüßt! Carpe diem, beruhige dich, mein Guter, sage ich noch, er nutzt eben die Mamortreppe anders. Der Bürgermeister lacht, geleitet mich und mein Team durch die Ortschaft, wir lernen viel. Ein Spektakel dieser Stadt sind die Forellen, wie mir jemand erklärt, man könne drei Wochen lang beobachten, wie sie flussaufwärts springen. Auch bei Fisch überkommt mich das kalte Grauen, schnell schreie ich mein Team an: Los, Flucht!, alle sammeln sich, ich zücke den Hut zum Abschied und winke dem Bürgermeister noch einmal kurz zu, dann besuchen wir die Alte Büdnerei.
Emil, mein kleiner fünfjähriger Genosse, klopft mir auf das Knie und erzählt, sein Huhn, Sofia, habe heute zwei Eier gelegt. Bist du dir denn sicher, Emil, dass das Huhn dir gehört? Ich denke, hier gibt es viele Hühner und du machst hier nur Urlaub! Um es dem Kind zu erklären, verwende ich eine einfache Sprache und betone meine Worte klar, spreche langsam. Die Österreicherin entspannt sich, die Dänin und die Italienerin machen etwas mit Action, der Spanier fotografiert und filmt wie ein Verrücktgewordener, mein Reisekumpan Andreas und ich gönnen uns auf der Wiese die erste Zigarre des Tages. Schön hier, sagt er, er habe sich immer vorstellen können, hier zu wohnen. Manchmal, hauptsächlich an Samstagen, gönne er sich einen kleinen Ausritt hierhin, aber wenn er hier sei, gefallen ihm doch die Berge immer besser. Mein Guter!, sage ich wieder während wir die Landschaft, die Wiesen, die Pferde überblicken, de omnibus dubitandum!, und Reisekumpan Andreas schmeißt – ganz ergriffen von unserer Situation – seinen Cowboyhut auf den Boden, nickt und nimmt einen tiefen Zug von der Zigarre. Nach einem Schluck Whisky breitet sich ein wohliges Gefühl in unseren Bäuchen aus, die Füße legen wir auf den Tisch.
Schon am nächsten Tag werden wir mit einer Kutsche in die Hotelresidenz geführt. Nach einer kurzen Entspannungspause am Meer besichtigen wir schließlich unsere Zimmer. Angenehm, sage ich noch, dann entblöße ich mich und werfe mir den extra für mich angefertigten Bademantel über, bevor ich den extra für mich angefertigten Willkommensbrief studiere. Hätten Sie das nicht auf Latein schreiben können?, brülle ich vor Wut in den Telefonhörer. Die Rezeptionistin entschuldigt sich, sie habe ja nicht ahnen können, welche Sprache ich bevorzuge, es würde aber gleich jemand eingeflogen werden, der diesen Brief dann übersetzt und mir persönlich aushändigt. Mutatis mutandis, nach den notwendigen Änderungen, schreie ich in den Hörer, dann knalle ich ihn dahin, wo er hingehört. Kurz danach überfällt mich der blanke Wahnsinn. Kokos will ich!, rufe ich durch den Raum, Kokos und eine Krone! Wieso sich für etwas Besseres aufsparen, sage ich noch, und schiebe mir einen Schokoladenball nach dem anderen in den Mund. Eine kleine Träne tropft mir aufs Knie. Drachenfrucht, Kiwi, Banane, alles einerlei, wenn ihr es so schön herschneidet im Upstalsboom. Mit der Schokolade im Mund trete ich auf den Balkon – vivat, crescat, floreat –, ich sehe Kühlungsborn, das Meer und die Leute auf dem Balkon unter mir und wie aus Übermut strecke ich die Arme in die Gegend, die Königin von Kühlungsborn, heute siezt ihr mich, ihr Kleinen. He, schreit noch einer von unten herauf als Beschwerde, aber ich bin im Raum, ich reiße das Plastik von meinem Bademantel, dann auch meinen Mantel vom Leibe, königlich bin ich, und es ist Zeit für den Wellnessbereich.
Man dürfe die Hände nicht auf das Holz in der Sauna legen, ermahnt mich der Alte, und ich sage, meine Hände sind aus Gold, ich darf sie hinlegen, wo ich will, du Scharlatan! Er erschrickt. Bevor sein runzliges Gesicht aus Scham auseinanderfällt, rennt er weg, aus dem Hotel hinaus, auf die Straße. Ich bleibe, kurz danach ist es zu warm. In vino veritas!, rufe ich meinen Gefährten zur Begrüßung im Frühstückssaal zu. Sie winken, auch sie sind erhaben. Einen Pancake tische ich auf, ein Rührei, drei Gläser voller Saft, voller Sekt, voller Champagner, der sich edel in meine Kehle zwingt. Kellner, rufe ich noch, vielleicht haben Sie ja noch etwas zum Nachtrinken? So schnell habe ich nie jemanden rennen sehen, nie einen Kellner und nie meinen Reisekumpanen Andreas, der zum Buffet sprintet.
Plötzlich überschwemmt mich die Panik. Ich bitte dich, sage ich zu mir selbst, jetzt hast du dich aber überschätzt! Und noch während mir der Lachs im Gaumen hängt, trifft mich der erste Blick eines Wissenden wie ein Baseballschläger auf den Hinterkopf. He, Sie!, schreie ich den Alten an. Er beobachtet meinen Teller, meine Hände, sogar meinen Kaffee. Jetzt beginnt es zu pulsieren: He, Sie!, rufe ich, nun etwas kleinlauter, mein Reichtum schwindet, es ist bald Zeit, Upstalsboom zu verlassen, der Alte stiert mich an, er hat meine Blendung durchschaut. Der Alte wird an meinen Tisch kommen, er wird mich am Schopf packen und auf die Straße ziehen, wo die Reichen einer neben dem anderen stehen werden, den adligen Blick auf uns gerichtet, und der Alte wird mir mit seinem Golfschläger ordentlich eine überziehen. Wenn ich dich erwische, sagt allein sein Blick auf meinen Kaffee, prügle ich dir den erschlichenen Luxus rückwärts rein! Aber soweit ist es nicht für mich gekommen, rogo te!, ich bitte dich, sage ich mir selbst, dann verschlinge ich auch den letzten Happen Schinken, wer weiß, wann wir das nächste Mal essen. Dem Alten werfe ich eine Gabel auf die Hand.
Im Zimmer angekommen beginnt meine Flucht. Ich stülpe mein elendes Gepäck in die Tasche, stecke ein, was mir vor die Finger kommt, den Stift, den Notizblock, sogar den persönlichen Brief, den das Hotel an mich adressiert hat, damit ich meinen kurzweiligen Reichtum beweisen kann. Für die Handtücher habe ich keinen Platz. Da klopft es, bitte das Zimmer verlassen, der Nächste will rein. Der Nächste wird schon im Fahrstuhl fahren, er wird die Drei schon gedrückt haben mit seinem edlen Finger, und ich werde noch hier stehen, wenn er kommt, mit seiner Zimmerkarte, in dem Moment, in dem er den Raum betritt, der kurz unserer und dann gleich seiner ist. Der Nächste wird auf die Etagere blicken und dann wird er sehen: Aha! Hat sie also die Etagere aufgegessen! Und Gnade mir Gott, wenn ich nur Zähne aus Kruppstahl hätte, würde ich mir sogar dieses Eisen zwischen die Lippen biegen!
Ihr Kleinen!, rufe ich den Reichen zum Abschied missmutig zu, so also seht ihr aus hinter eurem Reichtum! Meine Kumpanen und ich schwingen uns aufs E-Bike, lassen unseren Luxus zurück, im Modus 5 über Wiesen und Wälder, wir fliegen, der Wind weht mir kalt ins Gesicht, Reisekumpan Andreas lächelt noch, bevor er fast gegen einen Baum fährt. Macht nichts, ruft er fröhlich, und ich rufe durch die Natur, durch den Waldweg, ganz schrill rufe ich: Jaja, mein Kumpan, so ist es, die jungen Personen haben immer am wenigsten Schmerzen! Bis wir da sind, am Herrenhaus, 28 Zimmer!, erklärt uns die Hauseignerin Antje und Andreas, der Künstler, steht neben ihr, erklärt, er mache alles, außer Mafia. Wir lachen, wir trinken einen Apfelsaft! Exquisit, dieses Haus, schmeichelt mein Reisekumpan Andreas dem Andreas, danach tauschen wir verstohlene Blicke: Wir sind in einen weiteren, angenehmen Luxus geraten.
Bach, überlegt die Tochter des Hauses, sie spielt bezaubernd Klavier, und meine Kumpanen sind ganz aufgewühlt von dieser bezaubernden Musik, die durchs Herrenhaus und unsere Herzen strömt. Weint nicht, will ich ihnen raten, die Schönheit der Natur ist unersättlich! Aber es hilft nichts, sie weinen in Strömen, sie weinen das ganze Herrenhaus voll. Jemand wird sich bald beschweren, denke ich, zum Glück, dass unsere E-Bikes über den Modus 5 verfügen. Dann eile ich hinaus in die Natur, in der ich mir ein ruhiges Plätzen suche, um endlich meinen Gefühlen einen freien Lauf zu lassen. Als ich denke, schöner kann es nicht werden, passiert das Unfassliche: Eine Katze schmiegt sich gegen mein Bein und mit gegen meine ich: gewaltsam! Verschwinde!, rufe ich ihr zu. Verschwinde, denn sole lucet omnibus, die Sonne scheint für uns alle, so auch für mein Bein.
Sie verschwindet tatsächlich, damit habe ich nicht gerechnet, ich bin traurig. Kurz danach setze ich meine Lesebrille auf, um meine Tränen der Freude zu verbergen, wie ich meine Kumpanen am Eingang des Herrenhauses beobachte: Elena, die Österreicherin, keinen schlechten Gedanken im Kopf, herrlich, Daniela, die Italienerin, eine Unermüdliche, Emilie, die Dänin, die noch großen Erfolg beim Angeln haben wird, Teresa, die Unbeirrbare, die uns durch die tiefsten Tiefen Mecklenburg-Vorpommerns führt, und ihre treue Begleitung Burcin, Maximo, der spanische Blumenliebhaber, aber von all dem, was uns noch in Rostock erwartet, wissen wir noch nichts im Herrenhaus. Ich flüstere leise in die Nacht, in den Sternenhimmel: Amantes, amantes. Ein flauer Sommerwind trägt die Übersetzung in die Ferne. Einmal schluchze ich bedeutend, dann falle ich lachend in einen tiefen Schlaf.
Pro salute omnium!, rufe ich durch die Spelunke, in der wir uns noch einmal zusammenfinden, an unserem letzten Abend. Mein Team und ich, wir erheben die Gläser, manche summen leise die Hymne Mecklenburg-Vorpommerns und befinden sich in einer fast depressiv-anmutenden Trance. Eine Stunde später löse ich mich von der Truppe, ich klettere auf einen sehr hohen Berg und lege mir ein ebenfalls sehr großes Fernglas vor die Augen, um mein Königreich zu beobachten. Am nächsten Morgen verabschiede ich mich unter Tränen, dann fahren wir schnell nach Hause. Als Lektüre lese ich zuhause angekommen in meiner Bibliothek wieder Cicero in meinem Ledersessel. „Omnia praeclara rara“, steht dort geschrieben. Ich unterstreiche den Satz zweimal und beginne mich zu sehnen.