annegret will nach chicago
1
um enttäuschungen vorzubeugen, macht annegret gerade: nichts. walther stört sie dabei und gibt ihr drei eier, äußerster fingernagel eingerissen, aber kein anzeichen einer beschwerde, walther will im leben eben nichts mehr beweisen. annegret sortiert die eier in einen karton. “drei bloß?”, fragt sie, und walther nickt dem küchentisch entgegen, ihrem gemeinsamen ort in einem haus in einem dorf in einem bundesland auf einer pvc-tischdecke. die beiden schauen sich nicht an, das machen sie nie.
für annegret ist das besser so. sie ist der hautpflege nicht besonders angetan, das erkennt man an ihren nasenporen. wenn man genau hinsieht, sind sie schon schwarz, aber niemand sieht genau hin, auch nicht walther, vorgestern nicht, gestern nicht, heute nicht und den erwartungen zufolge morgen auch nicht. annegret macht das traurig. sie wünscht sich jemanden, der sich in ihr verliert, so emotional gesehen, aber auch körperlich mit blicken und schmacht. aber so jemand kommt nie, es gibt so jemanden nicht, nur der walther kam, und er blieb. walther gilt als überregionaler huhnprofi, aber heute hat er ein problem. 738 hühner hatte er heute morgen noch, jetzt sind es rein rechnerisch 0. und wie er ihr das erklären soll, weiß er nicht.
walther kennt sich nur als mann mit hühnern und annegret nur als dazugehörige frau. die beiden haben mit den tieren viel durchgemacht. sie wissen, wie man die vögel am besten allein oder zu zweit fängt, wo die eier liegen, wie man ein gebrochenes hühnerbein schient, und dass die blumenhühner hohe zäune und gestutzte flügel brauchen. jahrelange erfahrung eben. aber am besten bemerkt man einen zusammenhalt immer noch, wenns schlecht läuft, und das ist bei annegret und walther, aber auch allgemein in der krankheit und im tod.
wenn annegret tiere schlachtet, ist es so: huhn mit einem schlagholz auf den schädel dreschen, zwischen die knie klemmen, mit einem scharfen messer oder zur not einer astschere den hals durchschneiden und in dieser stellung ausbluten lassen. das zappeln entsteht durch normale muskelreaktionen.
wenn walther tiere schlachtet, ist es so: er leidet! leise zwar, aber akut. deswegen wählt er methoden, die ihn nie alleine, sondern immer nur gemeinsam töten lassen. einer hält fest, der andere drischt. er hat angst vor dem fehler, der dazu führt, dass das tier noch mehr leidet und zwar so laut, dass er auch davon mitbekommt. und dann muss er mit dem beil noch mal draufschlagen, das tut ihm dann doppelt leid. deswegen wünscht er sich beim töten unterstützung. und die heißt annegret kolsowa.
walther rückt sich den stuhl zurecht, sein arm zuckt kurz, als ob er will annegret anfassen. will er aber nicht.
“du”, sagt walther, und das ist schon neu, weil er nur selten was sagt.
“ja”, sagt annegret.
“es ist so”, sagt walther, und dann sagt er nichts mehr.
“wie”, fragt annegret.
“heute hab ich alle tiere im stall verkauft”, sagt walther.
“aha”, sagt annegret. was soll man schon sagen. im radio stellt jemand die frage, ob man ein toastbrot innerhalb einer minute essen kann, ja oder nein.
“an wen hast du die hühner verkauft?”, fragt annegret.
“an einen, der viel geboten hat”, sagt walther. “der kommt rein, sieht aus wie ein baumstumpf, sagt, er nimmt alle, und da hab ich sie ihm verkauft. das geld hat er mir direkt gegeben, 15.000 in bar, und die tiere mitgenommen. der war um 7 da und um 8 wieder weg.”
“aha”, sagt annegret entgegen aller wahrscheinlichkeiten. sie hat einige fragen, zum beispiel weiß sie nicht automatisch, wie einer wie ein baumstumpf aussehen kann. im radio erklärt jemand, dass man ein toastbrot nur innerhalb einer minute essen kann, wenn man es in vier gleich große teile schneidet.
annegret kennt das quiz bei radio ostseewelle. sie hat schon sabines, günters, michaels und sandras gewinnen gehört, aber selbst noch nie angerufen. stell dir vor, sie kennt die antworten nicht. stell dir vor, alle hören das. stell dir vor, die haben das auch noch auf band. annegret kolsowa, dümmste frau deutschlands. gefragt, ob sie lieber diese situation ertragen oder sich jedes körperhaar einzeln mit einer pinzette ausreißen will, nimmt sie die pinzette. ist sie von walther überrascht? nein. ist sie gekränkt? nein. ist sie beleidigt? nein. ist sie fröhlich? nein. sie ist annegret. ihr hobby ist das umschichten von hühnerkot.
2
ab morgen findet ein leben ohne hühner statt. sowas ist annegret nicht gewohnt, und gewohnheit ist ein wichtiges thema in annegrets leben. da kann in kopenhagen die börse, in paris notre-dame und in rostock das sonnenblumenhaus abfackeln, das interessiert sie nicht, sie ist gewohnt, dass alles nach plan läuft. dass der tag um 5 uhr beginnt, aufstehen, anziehen, zwei kaffee schwarz, meist isst sie im stehen und prüft das wachstum der kapuzinerkresse sowie das wachstum dreier haare, die unterhalb ihres kinns hervorsprießen und eine haardichte aufweisen, die sich eindeutig als bart beschreiben lässt. annegrets bart.
danach hausarbeiten, viele davon in der wohnküche.
danach etwas im garten machen, abspülen, einmal fegen.
danach abendbrot.
danach nordmagazin.
danach ab ins bett.
das ist ein ganzer tag von annegret.
das telefon ist der modernste gegenstand im haus. ein zweites lagert auf dem speicher, falls das erste kaputt geht. das erste telefon geht aber nicht kaputt, weil niemand anruft und der verschleiß somit ausbleibt. annegret und walther rufen auch nicht nach draußen, weil es niemanden gibt, den sie anrufen können, und sie auch nicht wissen, was sie erzählen sollen. gibt ja nix. kinder haben sie nicht, freunde haben sie nicht, nicht mal feinde. selten fühlt sich das einsam an, es ist einfach normal. über alles, was normal ist, denken sie nicht viel nach. bis heute. daran denkt annegret, bevor sie am vorerst letzten tag ihres lebens einschläft.
3
dann ist morgen und alles anders. annegret steht ohne grund auf, geht ohne grund aus der tür, setzt sich ohne grund aufs fahrrad und fährt ohne grund von einem dorfende zum anderen, das sind insgesamt drei minuten, wenn man laut zählt.
eins. zwei. drei.
alles, was sie sieht, ist immer schon da gewesen. selten verändert sich im dorf etwas oder jemand. die menschen werden geboren, älter, fahren mit dem sammelbus in die stadt zur schule, machen ihre ausbildungen, wandern in großstädte ab und kehren nur zu familienfesten zurück. im sommer werden dachse überfahren, im herbst von bäumen gefallenes obst und diesen winter drei rehe. die menschen arbeiten in der meierei, als pflegekraft oder in der käserei und zeigen sich über angeleinte hunde verwundert. annegret fährt an einer backsteinmauer vorbei, hier war ein hakenkreuz-graffiti, dann hat es jemand weiß überstrichen, jetzt ist es wieder ein hakenkreuz-graffiti, aber von der spraytechnik her auf jeden fall ein anfänger.
1 minute 21. 1 minute 22. 1 minute 23.
einige leute haben schlechte zähne, aber nicht so schlecht, dass sich die autofahrt in die stadt schon lohnt. die häuser sind nie höher als zwei stockwerke und ausgestattet mit vier bis fünf räumen, die selten jemand anderes als die eigene verwandtschaft betritt. 2.000 quadratmeter ist eine normale größe für grundstücke. die menschen fahren BMW, traktoren, VW-bus oder gar nichts, weil keine zeit ist und benzin teuer. man grüßt sich mit kopfnicken oder gar nicht, nicht bös’ gemeint.
1 minute 48.
jeden zweiten dienstag geht annegret durch die straßen und guckt, was die menschen in ihren vor den häusern deponierten gelben säcken loswerden wollen. erfordern es die umstände, bleibt sie stehen und zählt nach, der rekord liegt bei sieben säcken in zwei wochen, und das war nicht mal nach weihnachten, eine für ihren verpackungsmüll bekannte veranstaltung. normalerweise kann man sich im schnitt auf zwei säcke pro haus verlassen.
2 minuten 58.
annegret bleibt nicht stehen. sie fängt bei 1 wieder zu zählen an und fährt los, vorbei an der lilanen oma, die jeden Tag nur lebensfeindliche farben trägt. annegret grüßt nur halb, heute muss nicht angehalten und nichts besprochen werden. sie gehört jetzt nicht mehr zu denen, die alles machen wie immer.
drei minuten.
was annegret vor sich sieht, nannte sie bis heute Z U H A U S E. gestern noch hat sie sich mit der frage beschäftigt, welches kraut nun als unkraut zu gelten hat und welches nicht. löwenzahn ja, brennnessel nein. heute ist es anders. sie denkt an walther, der ohne hühner eine andere person ist für sie. eine person ohne geflügelzuchtaustellung, ohne futterkauf in der lagerhalle, ohne federn in der tasche. immer schon hat sie ihn mit hühnern gekannt, seine stallhaut, seinen ärger, wenn eins davonfliegt, wenn jemand nicht genug zahlen will und auch seine traurigkeit, als der hahn erkältet war, ungewiss, ob er jemals wieder krähen konnte. konnte er. aber die zeit dazwischen war düster, vor allem in walthers gesicht.
der hat sich im leben keine 50 kilometer vom grundstück entfernt. hier ist er geboren, hier ist er geblieben und annegret kam halt irgendwann dazu. auch sich selbst kennt sich nicht ohne hühner, zumindest kann sie sich nicht erinnern, wie es vorher war, vor walther, vor den hühnern, vor dem dorf. wieso bleibt man eigentlich irgendwo? annegret fliegt eine biene gegen das augenlid. sie steht auf und nimmt die betonstufen hoch ins haus, dem ort, der bis heute ein gemeinsamer war.
4
walther liegt als mann ohne hühner auf dem sofa und hat keine aufgabe mehr. das merkt man ihm an, er liegt sonst eigentlich nie, er ist eher ein senkrechter mann.
“walther”, sagt annegret.
“ja”, antwortet walter.
“es ist so”, sagt annegret. “ich will nach chicago.”
walther sagt erstmal nichts. erst kommt es ihm blöd vor, vielleicht folgt ja noch eine erklärung, wieso chicago, wieso jetzt, reicht nicht usedom? waren an der müritz? die mecklenburger seenplatte? von ihm aus sogar brandenburg? dann macht es zack im hirn vom walther und er versteht alles. er fragt noch mal, eher als statement als als frage:
“nach chicago.”
“ja”, sagt annegret.
“gut”, sagt walther. “ich komm mit.”
Dieser Text hat den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern 2024 abgeräumt. Danke!